Es gab vor sehr vielen Monden eine Musikzeitschrift, die prägend für mindestens eine Generation von Musikhörern war. Eine Institution, die mit ihren Berichten und vor allem ihren Plattenkritiken über das Schicksal so mancher Platten entschied. Eine Redaktion Musikbegeisterter, die versuchte die Leser objektiv (soweit es geht) und gleichzeitig unterhaltsam durch den Dschungel der Neuveröffentlichungen zuführen. Nicht immer Trittsicher, wie sich im Nachhinein herausstellte. So manche besprochene und vielleicht sogar verrissene Platte mauserte sich im Laufe der Zeit zu einem Kultalbum. Der Verlag Zweittausendeins brachte die Plattenkritiken, des schon lang erloschenen Sterns am Musikzeitschriftenhimmel, als Sammelband heraus. Von 1966 bis 77 werden hier Plattenkritiken präsentiert, die bei erscheinen der jeweiligen Alben noch nicht den späteren Kultstatus erahnen konnten. Ein Paar der schönsten Kritiken möchte ich hier vorstellen. Allerdings sollte sich jeder selbst ein eigenes Urteil über das jeweilige Album machen. Auch Kritiker können mal einen schlechten Tag haben.


Kiss Alive Casablanca C 188-97185/86 von 1976

 

 

"Hallo Kinder, hier meldet sich mal wieder der Bastelonkel in SOUNDS. Unser heutiger Beitrag heißt: KISS ALIVE! – ode wie stellt man aus einem Doppelalbum zwei flotte Frisby-Scheiben her. Also, man nehme einen gewöhnlichen Elektroherd, bestreiche seine beiden größten Platten mit etwas guter Butter (keine Margarine!) und stelle dann die Temperatur auf ca. 80 Grad. Sind die Kochplatten dann heiß, lege man vorsichtig auf jede eine der beiden Kiss-Platten. Es ist darauf zu achten, dass der Schallplattenrand überall gleichmäßig (ca. 1 bis 1, 5 cm) übersteht. Nach wenigen Minuten beginnen sich die Ränder langsam nach unten zu biegen. Jetzt ist´s soweit. Nehmt die beiden Kiss-Platten schnell runter und schreckt sie unter kaltem Wasser kurz ab. Verklebt noch die beiden Löcher in der Mitte, und fertig sind Eure Frisby-Scheiben. So, und nun viel Spaß bis zu unserem nächsten Beitrag `wie man aus Bay City Rollers Alben hübsche Kuchenuntersetzer machen kann…!“ Autor unbekannt

 

 

Anmerkung von mir: Und mit dieser Bewertung war SOUNDs nicht allein. Alan Niester vom Rolling Stone Magazin beurteilte die Musik der Band als "schrecklich, kriminell repetitiv, schrudding monoton  ... und leicht unterhaltsam für etwa zehn Minuten"

 

Das Album verkaufte sich trotz der Kritik etwa 9 Millionen mal und gilt heute als ein Klassiker unter den Live-Alben.

 


Rolling Stones – Exile On Main Street – Rolling Stones Rec. 1972

 

 

Anfangen mit der Rückschau möchte ich mit einem Klassiker, der vom RollingStone Magazin regelmäßig unter die besten 10 Alben aller Zeiten gewählt wird, und doch bei erscheinen bei den Kritikern nicht ganz so gut davonkam. Zumindest in den Ohren von Hans-Jürgen Günther, der in der Zeitschrift Sounds folgendes zu berichten wusste:

 

 

"Für die Stones dürfte dieses Doppelalbum dem Tanz am Abgrund gleichkommen. Verlieren sie das Übergewicht, sprich sinken sie im Publikumsinteresse, so wird EXILE ON MAIN STREET nicht nur daran schuld sein, sondern sich auch als nach unten ziehendes Bleigewicht erweisen. Schaffen sie es dagegen, trotz dieses Albums noch einmal davon zu kommen, haben sie indes nicht mehr als eine Galgenfrist gewonnen.  Ich will hier bewußt nicht die Frage anschneiden, ob es die Stones mit der politischen Aussage ihrer Texte ernst meinen. Die rein musikalische Situation der Gruppe ist nämlich schon traurig genug. Und das erscheint mir bei einer band, deren Musik – trotz des textlichen Inhalts – immer von ihrem Sound lebte, am wichtigsten.

 

Fast wäre es zu wünsche, dass sie sich zur Ruhe setzten, denn dieses Werk ist eine Katastrophe, gegen die selbst das weiße Doppelalbum der Beatles völlig verblasst. Mick Jagger und seine Mannen präsentieren sich als total abschlaffende und selbst abgeschlaffte Mannschaft von End-Zwanzigern und Anfang-Dreißigern, die einmal eine aufwühlende R&B-Musik zu spielen verstanden, nun aber reich, fett und substanzlos geworden sind. Alles, was früher ihren Sound so überzeugend aggressiv machte, erscheint jetzt deutlich als gewollt. Da ist nichts mehr von ehrlicher Schärfe und echtem Engagement zu spüren, dafür aber viel von tödlicher Studioroutine und dem Wissen, wie man eine Gitarre schmerzlich heulen lässt – nur dass keiner mehr den Schmerz so recht glauben kann.

 

Sie sind schon ein trauriger Haufen, der, unterstützt durch chamäleonartig wandelnde Studiomusiker, wie Nicky Hopkins (er ist noch am besten), Jim Price und Bobby Keys, sich vergebens abmüht, eine gehaltvolle Musik zu fabrizieren.

 

Indes beginnt das Dilemma bereits bei den Kompositionen. Jagger und Richards wirken ausgesprochen ausgebrannt und ideenlos. Ihren Songs fehlt fast durchweg die innere Überzeugungskraft. Sie wirken routiniert und automatenhaft zusammengesetztaus allerlei mehr oder minder brauchbaren Einzelheiten. So kommt man bestenfalls zu Songs, die für Diskotheken geeignet sind, aber nicht einmal das sind die meisten.

 

Den zahlreichen kompositorischen Mängeln gesellen sich interpretatorische Fehlleistungen eines Ausmaßes hinzu, wie sie beiden Stones bislang nun wahrlich unbekannt waren. Das fängt an bei Mick Jaggers Gesang, der ideenlos und oft sogar verkrampft wirkt. Jagger scheint eine gehörige Portion seines Feelings und seines Phrasierungsvermögens verloren zu haben. Wie sollte diese müde Gesangsvorstellung anders zu erklären sein. Aber auch Instrumental mangelt es an Gestaltungsvermögen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass sich Charlie Watts Mühe gibt, einen kräftigen Rhythmus durchzuhalten, zwar gibt es bei verschiedenen Songs wenigstens teilweise interessante Gitarrensounds, aber das bleibt – eben weil die Songs „von Natur aus“ schon so schwachbrüstig sind – bei weitem zu wenig, um ein ganzes Doppelalbum zu füllen.

 

Insbesondere bei den Schnelleren, rockigeren Titeln fällt die erschreckende Substanzlosigkeit der Musik auf. In den langsameren Stücken, die mehr in Richtung des orthodoxen Blues liegen, gelingen den Stones bessere Leistungen, ohne, dass sie aber früheres Niveau erreichen. An Meisterwerke wie `Tell Me´, `No Expectations´ oder `Lady Jane´ darf man jedenfalls überhaupt nicht denken. Zum Ausgleich für all das verfallen die Stones in die Manie, mit aufgedrehten Verstärkern, schlampigen Arrangements (die wohl echt bluesig klingen sollen?) und hektischer Betriebsamkeit ihre Musik zu retten. Beim besten Willen hätten sie aus den besseren Songs auf diese Weise ein Album zusammelstelln können, um bis zur Fertigstellung neuer, besserer Werke nicht in Vergessenheit zu geraten. Aber ein Doppelalbum entlarvt ihre Krise überdeutlich und schadet viel mehr, als es nutzen könnte. War denn niemand da, der ihnen diesen Wahnsinns Plan ausreden konnte?"