Kaffee, Eis und Kinderlachen auf dem Kemal-Altun-Platz

 

Man hat sich an den Kemal-Altun-Platz gewöhnt. Er ist zu einer kleinen Oase mitten im bevölkerungsstarken Ottensen gereift. Ruhe findet man allerdings nicht unbedingt. Zu Viele nutzen auf Ihre Art den Raum zur Freizeitgestaltung. Die Kinder mit den Eltern auf dem Spielplatz, die Jugend auf dem Basketball- oder Fußballplatz, die Hundebesitzer auf der abgezäunten Auslauffläche und alle Übrigen auf den Bänken an den Rasenflächen und Wegen. Aus dem benachbarten Bauspielplatz dringt das monotone Hämmern und Sägen kleiner fleißiger Hände herüber. Der Lärmpegel ist hoch, aber gut verträglich. Es ist wie gesagt eine Oase in der Stadt, und wer ganz verwegen ist, holt sich dazu einen Kaffee aus einem der umliegenden Cafés. Oder ein Eis aus der Eisliebe, wenn er nicht vorher über achtlos auf dem Bürgersteig abgestellte Kinder und Fahrräder stolpert. Aber Toleranz wird hier großgeschrieben. Bis vor 45 Jahren sah es hier noch etwas anders aus. Kam man auf seinem Spaziergang die Eulenstraße entlang zur Reitbahn, dann erwartete einen, mit Blick nach links in die Große Brunnenstraße, ein quadratisch praktischer Bürobau, der sich bis zur Bergiusstraße zog. Hinter dem Verwaltungskomplex reihten sich die Werkshallen der Firma Menk & Hambrock GmbH aneinander. Maschinenbau. Rammen und Bagger. Gegründet 1868, genau auf dieser damals noch von Kühen und Schafen bewohnten Wiese, schnell wachsend, zu einem der größten Arbeitgeber Ottensens. Vier weitere Werke von Menck & Hambrock reihten sich weiter die Große Brunnenstraße entlang, bis zur Behringstraße aneinander und sogar noch darüber hinaus. Die Industriebahn spannte ein dichtes Netz aus Schienensträngen über dieses Gebiet und verband andere ansässige Industriebetriebe miteinander und den aus der Stadt führenden Schienen des Altonaer Bahnhofs für den Fernverkehr. Die Industrie und die Ottenser wohnten in direkter Nachbarschaft. Auf der Behringstraße wurden noch Bremssysteme für das Militär auf ihre Tauglichkeit getestet. Auch Menck & Hambrock war während des zweiten Weltkriegs genötigt, die Produktion umzustellen und Haubitzen und Munition für den Endsieg zu produzieren. Das änderte sich aber wieder schnell und man baute wieder das was man konnte – Bagger und Rammen. In Spitzenzeiten waren 2.100 Mitarbeiter hier beschäftigt. Das war 1961 und Menck & Hambrock Weltmarktführer. Hier auf diesem Platz schlug ein Herz aus Stahl, das Ottensen antrieb. Danach begann der Stern der Firma langsam aber stetig zu sinken, bis 1978 endgültig Konkurs angemeldet werden musste. Der Abriss begann zeitnah. Vielleicht sogar von den eigenen Erzeugnissen niedergerissen. Heute stehen Mehrfamilienblöcke auf dem ehemaligen Firmengelände, das sich bis zur Straße Am Born und in der Gegenrichtung auf Teilen des jetzigen Holstenrings befand. Nur die Fläche mit dem Verwaltungsgebäude und dem Werk I blieb nach dem Abriss frei (wenn man von einigen Bauwagen absieht). Der heutige Kemal-Altun-Platz. Heute erinnert wenig an die einst marktführende Firma, deren Kräne, Bagger und Rammen in die gesamte Welt verschickt wurden und teils heute noch in Betrieb sind. Die Produktpalette weist so illustre Namen auf wie Dampf- und Dieselbär, Dampframmbäre, Menck-Patentrohrgerüst-Ramme Masch oder Menck-Löffelhochbagger. Eine bunte Geschichte von Bäre, Rüttler und Rammler. Heute erinnert herzlich wenig an diese Firma und ihr 5 Werke in Altona. Einzig ein Bagger aus dem Werk, hat nach langer Abwesenheit den Weg zurückgefunden und steht jetzt als tatsächlich noch funktionierendes Denkmal am Rande des Kemal-Altun-Platzes in der Nöltingstraße/Am Born.

Ich hatte als Kind mit diesem Platz nichts zu tun. Ich erinnere mich nur dunkel an den Abriss des Verwaltungsgebäudes von Menck & Hambrock. Das war es denn auch. Mich interessierte nur das Zoogeschäft an der Reitbahn, Ecke Große Brunnenstraße, denn hier bekam ich das Heu für mein Kaninchen Harvey. Zoo Osnabrück, wie er sich nannte, war mein Anlaufpunkt und für mich um ein Vielfaches spannender.  

 

Da es das Geschäft Zoo Osnabrück nicht mehr gibt, kann man sich jetzt lieber mit dem Kemal-Altun-Platz und seiner bewegten Geschichte beschäftigen. Einfach mal auf www.stadtteilarchiv-ottensen.de reinschauen. Auch das Kartenmaterial sichten. Hier kann man sogar die ehemaligen Gleisverläufe der Industriebahn sehen. Schaden kann es ja nicht. Und dazu holt man sich einen Kaffee aus einem der umliegenden Cafés und setzt sich auf eine der Bänke am nun freien Platz.  


Schachcafé - Teil 8

 

Jeder hat in seiner Stadt seine Lieblingsorte. Orte, wo man sich gerne aufhält. Orte, die wichtig für einen sind, an die es einen immer wieder hinzieht. Orte, die man einfach gerne aufsucht. Orte, wo man sich wohl fühlt. Vielleicht auch geborgen und sicher. Oder einfach nur die Atmosphäre, den Ausblick oder diesen Platz aus anderen Gründen einfach mag. Jeder hat so seine Favoriten. In welcher Form auch immer. Eine bestimmte Art von Ort, ist eine besondere Institution, die es in wohl allen Städten gibt und die kaum wie eine andere für Gemütlichkeit, Wohlbehagen, Geborgenheit und vielleicht auch Gemeinschaftsgefühl steht. Ein Ort, an dem der Gastgeber einen versteht und einem fast die Wünsche von den Lippen abliest. Oder noch besser, die Zukunft aus dem Bodensatz eines leeren Glases lesen kann.

Die Kneipe.

Eine Lokalität der Verständigung und des gegenseitigen Verständnisses. Ein Hort der Freude. Zumindest in den meisten Fällen. Ein Anziehungspunkt. Eine Anlaufstelle. Ein Ort der Begegnung. Ein solcher Ort war für mich immer das Schachcafé in der Holländischen Reihe, an der Ecke zur Rothestraße. Strategisch gut gelegen. Gegenüber kochte Costa der Grieche, was er natürlich auch noch immer macht, und auf der anderen Seite der Straße servierte ein delikater Italiener, der auch immer noch seinem soliden Handwerk nachgeht. Da es im Schachcafé nichts zu essen gab, außer Schokoriegeln und Nüssen, eine sehr günstige Lage für die schnelle Bestellung und des Selberabholens. Gegessen wurde dann beim bereits angefangenen Bier im Schachcafé. Was diesen Ort auszeichnete, war, neben André dem Wirt, auch die Möglichkeit, bis in die Morgenstunden Gesellschaftsspiele zu kloppen, Risikoschlachten zu führen oder wie die meisten Gäste hier, in Ruhe `Go´ zu spielen. Ein japanisches Brettspiel, das ich nie begriffen habe. Woran es auch immer gelegen hat. Ich schiebe mal mangelndes Interesse vor. Das Schachcafé war eine Hochburg der Go-Spieler, was manchmal zu verbalen Konflikten, zwischen den eher auf Ruhe bedachten Spielern und den feierfreudigen Gästen – wie mir – führen konnte. Trotzdem verstand man sich. Na ja, eigentlich ignorierte man sich und ließ jeden machen, wie er wollte. Toleranz wurde hier gelebt. Das Schöne an dem Etablissement war, dass es eigentlich aus drei Räumen bestand und man sich so auch etwas abgrenzen konnte. Die offenen Torbögen bildeten doch einen recht guten Schallschutz. Und so teilte sich das Schachcafé in drei verschiedene Bereiche auf: An Tisch 1 traf man sich. Smalltalk. Zum Spielen, beispielsweise Go oder tatsächlich Schach, zog man einen Raum weiter. Tiefergehende Gespräche unter vier bis sechs Augen wurden ebenfalls hier geführt. Verliebte Blicke tauschte man lieber im hinteren Teil aus. Lästereien, meistens vom Tisch 1 ausgehend, ging man so aus dem Weg. Risikogruppenschlachten fanden ebenfalls im hinteren Raum am Rundentisch statt. Krieg und Liebe liegen ja bekanntlich dicht bei einander, hier sogar in einem Raum. Der Tisch 1 war Tagesgeschehen, Begrüßung, Verabschiedung, Spaßhaben. Und am dichtesten zur Bar gelegen. Kurze Wege sind so wichtig, wenn man Durst hat. Alles in allem eine harmonische Gegebenheit, für verschiedenste Möglichkeiten der Unterhaltung mit Zapfhahn. Musikalisch bunt. Man kann wirklich sagen International. Die Welt umspannend. Von Fury in the Slaughterhouse aus Hannover, Levellers aus England, über Mano Negra aus Spanien, bis zu den Aborigines von Yothu Yindi aus Australien. Aus Japan wiederum gab es eine Pressung auf CD von Bryan Adams, der ja bekanntlich aus Kanada kommt. Musikalisch war die Welt hier offen. Interessant wurde es immer, wenn André eine neue Kraft hinter dem Tresen engagiert hatte. Meistens Mädels, die Abwechslung in den Laden brachten. Dann wurde geflirtet, sich benommen, gelacht oder um einen neuen Zettel zum Anschreiben gebettelt. Jeder tat halt, was er am besten konnte. So wurde hier immer für Abwechslung und den intensiven Austausch von Neuigkeiten gesorgt. Sei es unser gastierender Taxifahrer mit seinen Teilchen, die dänische Aushilfe, die auch gerne mal den diensthabenden Polizisten, die in ihrem Streifenwagen unter unserem Fenster am Tisch 1 mit der Radarfalle auf Raser in der Holländischen Reihe wartend, einen Orangensaft spendierte oder Helmut der ehemalige Boxer, mit dem man sich wunderbar über alles unterhalten konnte. Liebenswerte Charaktere, die aus Altona in diese kleine Oase gespült wurden. Und solche Orte gab es reichlich. Sei es das Buchholz in der Rothestraße, das GiGi L am Spritzenplatz, das Café Insbeth in der Bahrenfelder Straße und bestimmt noch viele viele andere gesellschaftsverbindende Orte mehr. Leider haben auch solche Orte immer nur eine bestimmte Halbwertszeit und dann war es auch irgendwann mit dem Schachcafé vorbei und man ging seiner Wege. Was die Jungs und Mädels wohl heute so machen?          


Das Klo an der Kreuzung. Teil 7

 

Es gibt in Ottensen eine Straßenkreuzung, die für mich zu einem Dreh- und Angelpunkt in meinem Leben geworden ist. Nicht weil sie so schön oder besonders ist. Es ist auch nichts lebensveränderndes für mich hier passiert. Sie zählt nicht unbedingt zu den Straßenkreuzungen, an der man seine Seele dem Teufel verkauft. Keine Kreuzung, an der sich in der Tradition des legendären Bluesmusiker Robert Johnson aus Louisiana/USA Leute ihm anbieten, um bessere Musiker oder sonst was zu werden. Zumindest kann ich mir schönere Kreuzungen dafür vorstellen, auf einen Deal mit dem Teufel zu warten. Dass noch kein Teufel meine Seele haben wollte, merkt man wahrscheinlich. Was vermutlich aber auch an der eigentlichen Unwichtigkeit dieser Kreuzung liegt. Aber was soll´s. Und selbst wenn, es hätte vermutlich nichts verändert. Schlechte Deals konnte ich schon immer gut. An der besagten Kreuzung ist wie gesagt nichts aufregendes passiert, aber ich komme täglich an dieser Kreuzung vorbei und es hat sich in den letzten 45 Jahren auch quasi nichts verändert. Der Hohenzollernring und die Bleickenallee treffen hier noch immer aufeinander. Das spannendste ist, dass ab Spätherbst bis zum Frühjahr immer gut die Turmuhr der Kreuzkirche sichtbar ist. Zumindest so lange, wie die Bäume auf dem Mittelstreifen des Hohenzollernrings keine Blätter tragen. Ein Fingerzeig für meine Pünktlichkeit auf meinem täglichen Weg zur Arbeit, der den Puls zeitweilig in die Höhe treiben kann. Ich habe vermutlich in meinem Leben mehr Zeit an dieser Kreuzung verbracht als andere auf dem heimischen Klo oder in einer Umkleidekabine bei H & M.

Bis Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts endete hier Altona und es ging nur noch durch die Wiesen und Äcker über den Othmarscher Kirchenweg vorbei in Richtung Othmarschen. Das änderte sich erst mit dem Bau des Altonaer Kinderkrankenhauses und eines Gymnasiums. Erwähnenswert ist vielleicht, dass ich auf dieses Gymnasium am Hohenzollernring ging und dort regelmäßig ratlos aus dem Fenster auf den Park und die Kreuzung sah. Allerdings erst 100 Jahre später. Es wäre so manches Mal ein guter Moment für einen Deal mit dem Teufel gewesen. Meine schulischen Leistungen hätten ein Upgrad gut vertragen können. Nun gut. Vielleicht hatten andere an anderen Kreuzungen einfach mehr Erfolg.

Die letzte tiefgreifende bauliche Maßnahme war der Abriss des Wendekreises der dort endenden Straßenbahn, der Linie 15. Danach wurde die Kreuzung vor kurzem erst auf den zunehmenden Fahrradverkehr vorbereitet. Gewöhnungsbedürftig, wie ich finde. Kleine Inseln wollen mit dem Fahrrad umschifft werden, und auch den Autofahrern wird ein harmonisches Zusammenspiel mit den Radfahrern, Fußgängern und der jetzt recht bunten Kreuzung nicht leicht gemacht. Ironischerweise fand man bei dieser Umgestaltung die alten Gleise der Straßenbahn unter dem Asphalt wieder, die im Gegensatz zum Wendekreis nicht weggenommen wurden. Überdauert hat ein kleines unscheinbares Backsteinhäuschen. Direkt am Teutonia-Sportplatz. Heute ein Ausstellungsraum für engagierte Künstler und solche, die es werden möchten. Das soll nicht respektierlich klingen, ich halte die Nutzung für ausgesprochen wichtig, um auch „kleinen“ Künstlern für wenig Geld einen Raum zur Präsentation zu bieten. Passender Weise 'Bedürfnisanstalt' genannt. Dieses Gebäude hat eine größere Geschichte als man auf den ersten Blick vielleicht vermuten würde. Die korrekte Bezeichnung ist „Stadtmöbel“ und diente in der Vergangenheit als Unterstand und Wartehäuschen für die dort noch fahrende Straßenbahn. Im Kellergeschoss gab es dann auch die namensgebende Bedürfnisanstalt. Hier gab es passenderweise dann auch einen Kiosk, natürlich oben, der die Wartenden mit allem Nötigen versorgte, was man für die Weiterfahrt so brauchte. Zeitungen, Schnaps und Zigaretten. Damals durfte man noch überall rauchen. Auch in der Straßenbahn. Als ich aktiv ins Leben eingriff, da führte Hedi Nüssler noch den einen verbliebenen Kiosk. Auch als die Straßenbahn schon gar nicht mehr fuhr. Selbst ihr bester Gast, der hinter einer Langnese Eistruhe hockte und das Leben und eine Handvoll Gäste mütterlich versorgte, und den Betrieb auf der Kreuzung beobachtete. Hier bekam ich immer mein Eis. Immer aus der Truhe, auf der Hedi sich mit ihren Ellenbogen abstützte. Ich mochte sie. Die anderen Gäste auf den Holzbänken kannte ich vom Sehen zwar auch, mochte die aber nicht so gern. Es waren immer dieselben Gestalten. Im Nachhinein würde ich fast behaupten, dass die auch Alkohol getrunken haben und streckenweise nicht mehr ganz alleine waren. Na sowas. Vielleicht war Hedi aber doch der Teufel in Menschengestalt, der an der Kreuzung auf seine käuflichen Seelen wartete. Man weiss es ja nicht. Mich hat sie auf jeden Fall immer mit ihrem Eis gekriegt.   

 

Hedi Nüssler lebt nicht mehr. Sagt man. Vielleicht wartet sie aber auch jetzt an einer anderen Kreuzung auf neue Seelen. Wie dem auch sei. In meinem Kopf bleibt sie als ein Relikt aus der Altonaer Vergangenheit haften. Viel weiß ich nicht über sie, ich war ja noch jung als sie ihren Kiosk zum letzten Mal verschloss, was meiner Fantasie aber dadurch viel Raum zur Mystifizierung gibt. In meinem Herzen changiert sie mittlerweile irgendwo zwischen Henriette Johanne Marie Müller und Johann Wilhelm Bentz. Beide besser bekannt als Zitronenjette und Hans Hummel dem Wasserträger. Alles grantige Originale. Hamburger Originale. Wie die Kreuzung am Hohenzollernring.  


Von Fahrrädern und Plattenläden.

Teil 6

 

Es gab Zeiten, da sah es schlecht aus mit Fahrradläden in Altona. Wer ein Fahrradproblem hatte, der konnte sich dann aussuchen, ob er zu Rad und Tat in der Straße Am Felde fahren oder in die Barnerstraße zum Fahrradladen wollte. Das war es dann auch. Fahrrad-Diener am jetzigen Alma Wartenbergplatz hatte da schon lange die Luft aus den Schläuchen gelassen.  Vielleicht gab es noch einen Fahrradladen hinter dem Altonaer Bahnhof, aber das war nicht meine Gegend und daher mir auch unbekannt. Für mich gab es nur diese beiden Läden, zwischen denen ich pendeln konnte. Dagegen gab es deutlich mehr Videotheken und Gemüsehändler in Altona. Passte einem der eine Laden nicht, ging man einfach zum Nächsten. Das waren die späten Achtziger. Man kann es sich fast nicht mehr vorstellen, dass Fahrradfahren in Altona mal einen so geringen Stellenwert hatte. Vor allem wenn man sich heute solche Projekte, wie autofreie Zone Ottensen ansieht oder den Bau der „Fahrradautobahn“ quer durch Altona zu Gemüte führt. In der Ottenser Hauptstraße parken heute mehr Fahrräder als Autos und auch wenn man bei der Eisliebe vorbeikommt, meint man Altona besteht nur noch aus Fahrrädern. Nicht nur, weil manche Ottenser meinen, ihr Fahrrad auf dem Bürgersteig quer parken zu müssen, wenn der Reiz des Eises lockt und auf sonderbare Weise sämtliche Gehirnaktivitäten dabei eingestellt werden. Vorgezogener Hirnfrost. Entsprechend der Vielzahl an Fahrrädern haben sich auch die Fahrradläden in Ottensen und Altona im neuen Jahrtausend wieder vervielfacht. Dagegen sind die Videotheken und die Gemüsehändler um einiges weniger geworden. Eine Umkehr der Verhältnismäßigkeiten. Alles unterliegt einer gewissen Fluktuation. Geschäfte kommen und gehen. Seien es Kneipen, Restaurants, Modegeschäfte. Bis auf sehr wenige Ausnahmen wechseln die Ladengeschäfte wie andere Leute die Unterhosen. Nur eine Konstante (der Supermarkt in der Barnerstraße mal ausgenommen) kann Altona aufweisen, die sich über die vergangenen 40 Jahre in gefühlt gleichbleibender Anzahl in Ottensen tummeln und unverändert halten konnten: Apotheken. Medikamente gehen immer. Apotheken liegen hier in Sichtweite und manchmal nur einen Aspirinwurf entfernt zu einander. Was noch dichter zu einander liegt, sind hier nur noch die Friseure. Die liegen in trauter Gemeinsamkeit in unüberschaubarer Anzahl rund um das Mercado. Allerdings auch in einem ständigen Kommen und Gehen. Da können selbst die unzähligen Supermärkte und Telefonanbieter nicht mithalten. Aber auch das wird sich ändern, wenn der Zeitgeist sich mal wieder dreht und einige Dinge sich von selbst überholen. Wie die Videotheken dereinst. Nur die Apotheken, die werden aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin Bestand haben. Medikamente gehen ja wirklich immer. Sagte ich ja bereits. Fragen Sie ruhig Ihren Arzt oder Apotheker. Oder die Apothekenumschau. Aber es ist schön zu sehen, dass es wieder mehr Fahrradläden gibt. Läden, die auch individuell zugeschnittene Fahrräder anbieten, super Reparaturservice leisten und auch sonst immer zur Stelle sind, wenn es mal wieder nicht richtig läuft und quietscht. Handwerk in kleinen Läden. Es ist auch schön zu beobachten, dass es wieder kleine Geschäfte mit einer breiten Auswahl an Lebensmitteln, Haushaltsartikeln, Postschaltern und freundlichen Worten gibt. Geschäfte, die die alte Tradition der kleinen Tante Emmaläden wieder aufgreift. Die den Mut haben, sich im Schatten großer Supermärkte zu behaupten und sogar dabei ein respektables Leben führen. Und es ist bemerkenswert, dass es auch einen Wochenmarkt gibt und die Leute wieder bereit sind, dem kleinen Einzelhandel einen Boden zu bereiten. Ich möchte „meinen“ kleinen Kiosk an der Ecke nicht missen. Eine Fundgrube für den täglichen Bedarf, auch wenn es nur frische Brötchen am Morgen und manchmal zwei Bier für den Abend sind. Aber es ist gut zu wissen, dass es ihn gibt und ich alles Nötige dort bekommen könnte.

Noch etwas ist in Altona verloren gegangen. Etwas, was ich gerade in Altona nicht verstehen kann. Ich hätte hier einen guten Nährboden erwartet. Aber vermutlich hat sich das Publikum bereits zu sehr zu einer Streaminggesellschaft entwickelt. Eine Entwicklung, die Plattenläden keine Basis mehr bietet. Die Anzahl ist einfach spärlich. Einer in der großen Brunnenstraße (super nett) und ein sehr spezieller in der Julius-Leber-Straße (auch sehr nett). Super interessant, aber weit weg vom Mainstream. Was gab es noch? SLAM und Zardoz? Alle weg. Erst immer wieder umgezogen innerhalb Altonas und doch waren sie irgendwann weg. Nicht einmal ich konnte sie mit meinen Käufen retten. Irgendwann war einfach Schluss. Kaufen eigentlich nur noch die Leute in der Schanze Platten? Da gibt es eine unverhältnismäßig dichte Ansammlung von Plattenläden im Vergleich zu dem restlichen Stadtgebiet. Ich bin etwas neidisch. Ich erinnere mich gerne daran, als Slam noch in der großen Bergstraße war und man in den Keller steigen musste, um in Platten zu stöbern. Jetzt ist in dem Laden auch so ein Telefonanbieter – bietet auch Streaming an. Oder Zardoz. Erst am Paul-Nevermann-Platz, wo jetzt jährlich wechselnde Gastronomiebetriebe ums Überleben kämpfen. Mit ausgefallener Speisekarte. Super spannend, aber warum schafft es kein Plattenladen in Altona zu existieren? In der Ottenser Hauptstraße gab es auch keinen fruchtbaren Boden für Zardoz, trotz des Versuchs mit Kaffee und Kuchen eine Kaffeehausatmosphäre zu schaffen. SLAM erging es ähnlich. Die Bahrenfelder Straße war kein gutes Pflaster. Nu´ sind alle wech.

 

Ähnlich verhält es sich mit den Kneipen. Einige wirklich alteingesessene Kneipen halten sich. Die Marktschenke, Möllers, Eulenklause. Neue Gastronomien kommen und gehen im gefühlten Jahrestakt. Eben eröffnet, schick hergerichtet und bevor man sich endlich entschließen konnte, da mal ein Bier trinken zu gehen, sind sie auch schon wieder geschlossen oder es ist ein neuer Laden mit neuer Speisekarte drin. Viele Veränderungen, mal gut, mal schlecht. Das muss jeder für sich entscheiden. Hoffen wir mal, dass die Fahrradläden länger Bestand haben in dieser schnelllebigen Zeit und sich – wie die Apotheken – zu einem festen Bestandteil Altonas etablieren.        


Baumwolle statt Plastik. Teil 5. 

 

Da stand ich nun im Keller mit der alten DESUMA-Tüte in der Hand. Die Farben waren verblasst und auch das Plastik zeigte schon erste Auflösungserscheinungen. Ich glaube, sie war auch nicht mehr ganz dicht. Da saß ich nun, die Tüte zwischen meinen Fingern knetend, mit einem anderen Finger in einem Loch rumpulend und dachte an die Einkaufs- und Supermarktkultur von einst. Die alte Tüte in der Hand. Ich bin mit meiner Mutter immer zu dem PRO-Markt an der Friedensallee gelaufen. Da, wo jetzt das Hermes-Gebäude (noch) steht. Damals musste der Supermarkt dem Weißen-Riesen weichen. Jetzt wird er schon wieder abgerissen. Der Mensch steht den Doozers, den immer eifrigen kleinen Bauarbeitern in der Puppenserie Die Fraggles, in nichts nach. Die Haltbarkeit von Gebäuden wird auch immer kürzer. Nachhaltigkeit ist nicht des Menschen größte Stärke. Diese Erkenntnis lässt mich darüber sinnieren, dass ich eventuell trotz dessen alt werde. Wenn man den Bau und den Abriss eines Gebäudes miterlebt, dann kann das schon mal ein Denkanstoß sein. Vielleicht kommt ja ein neuer PRO-Markt hin.

Der Einkauf mit meiner Mutter lief damals immer gleich ab. Erst in die Haspa, die damals noch in dem gegenüberliegenden Flachdachbau, in dem jetzt eine KiTa ist, residierte. Später wechselte sie in das neu errichtete Mehrfamilienhaus an der Ecke Friedensallee, Bahrenfelder Kirchenweg. Aber auch hier verabschiedete sich die Haspa bald und es zog, man glaubt es kaum, noch eine KiTa ein, aber das war erst viele Jahre später. Mit meiner Mutter ging ich immer gerne in die Filiale der Haspa. Hier gab es immer eine freundliche Begrüßung an der Kasse und es wurde einem der gewünschte Betrag noch einmal vorgezählt. „Fünfzig-eins, fünfzig-zwei, fünfzig-drei, Dreihundeeeeert. Einen schönen Tag!“ Schön laut und gut sichtbar, damit der da hinter und manchmal auch schon danebenstehende nächste Kunde auch wirklich alles mitbekommt. Abstandsregelungen und Diskretion waren damals noch Fremdworte. Dann ging es auf die andere Straßenseite in den Supermarkt. Die kleine Rampe hoch und rein. Hier bekam ich meine erste Die drei Fragenzeichen-Kassette. Für die, die es interessiert, es war „Der lachende Schatten“. Aus einer Wühlkiste, in der heute normalerweise PIXI-Bücher liegen. Dazu eine 10er Packung Bounty. Alle in einer Verpackung, ohne noch einmal einzeln verpackt zu sein. Das war noch müllsparend. Die fing ich schon auf dem Nachhauseweg an zu knabbern. Zuhause war mir dann immer schlecht. Aber auch dieser Supermarkt musste bekanntlich weichen und so verlagerten wir unsere Einkaufstouren zu dem Coop an der Ecke Hohenzollernring/Behringstraße. Den mochte meine Mutter aber nicht so gerne. Glücklicherweise hielt auch der nicht mehr lange durch. Der Altonaer Bau- und Sparverein errichtete lieber ein Wohnhaus. Das bedeutete aber auch dass die Einkaufsalternativen weniger wurden und die Wege weiter. Dadurch trat dann DESUMA auf den Plan und bestimmte von nun an unseren zweitäglichen Weg nach Ottensen. Dieser führte uns dann immer an der ehemaligen Feuerwehrwache an der Behringstraße vorbei, bis in die Barnerstraße. Ein langweiliger Weg. Zumindest für mich als Kind, wenn nicht gerade die Feuerwehr ausrückte oder ihren Fuhrpark auf dem Vorhof zur Reinigung parkte.

Nach all den Jahren kann man behaupten, dass es neben den Apotheken in Ottensen noch eine weitere Konstante in Ottensen gibt. Dieser Supermarkt in der Barnerstraße, als DESUMA in mein Leben getreten, ist solch eine Konstante. Er hat zwar viele Metamorphosen durchlebt und hat den einen oder anderen Namenswechsel über sich ergehen lassen müssen, aber grundsätzlich ist er noch immer da und noch immer als ein einfacher Flachdachbau. Heute ein Rewe, vorher ein Minimal, davor ein Safeway und dann der DESUMA. Vielleicht habe ich einen Wechsel in all den Jahren verpasst, aber es gab ja auch einige. Selbst Schlangen wechseln gefühlt seltener Ihre Haut. Und das Erstaunliche, es gibt Mitarbeiter, die sämtliche Häutungen mitgemacht haben und noch immer dem Laden die Treue halten. So wie ich als Kunde. Duzen tun wir uns aber noch nicht an der Kasse. Eigentlich hat sich hier nichts verändert. Der Parkplatz ist immer noch in der Verkehrsführung undurchsichtig und der Hinterausgang zur Borselstraße verwirrend. Hier wird man dann elegant durch ein Wohnviertel gelotst. Für Ortsfremde ohne Navi ein verkehr gewordener Alptraum.

 

Die DESUMA-Tüte habe ich gerade in meiner Hand zerbröselt und zu Nanoplastik verwandelt. Gut, dass kaum einer mehr mit Plastiktüten einkaufen geht. „Jute statt Plastik“ ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Wie viele DESUMA-Tüten wohl noch in Altonaer Kellern schlummern? 

 

  


Dies ist schon Teil 4. Wer den ersten Teil noch einmal lesen möchte, startet bitte von gaaaaanz unten.

 

Winterspiele im Rosengarten

 

Wenn wir schon an der Elbe sind. Hamburg ist ja als Wintersportmetropole durchaus bekannt. Die Flocke des Nordens. Das Grenoble an der Elbe. Und man möchte selbstgefällig fragen, was ist Lillehammer? Spitzensportler in allen Disziplinen treffen sich nach dem Fall von drei Flocken Schnee in den Wintersportarenen im Donnerspark oder dem Rosengarten an der Elbe. Dann werden Opas Gleitschuhe, der Schlitten des großen Bruders oder Mutterns Plastiktüte vom letzten Aldibummel rausgeholt und am Hang zur waghalsigen Abfahrt genutzt. Es wurden auch schon sportbegeisterte Hunde und Fahrräder auf den Pisten gesichtet. Ganz mutige stürzen sich die Todeskurve hinab. Beginnend vom seitlichen Abgang aus dem Nachbarpark zum Rosengarten und dann in einem gewagten Bogen, knapp am Fußweg entlang, nach unten. Kerben in dem Handlauf des Weges zeugen von missglückten Abfahrten tapferer Wintergötter. Das Archiv des Altonaer Krankenhauses gedenkt in staubiger Stille den Helden. Das Ummähen, der auf dem vereisten Fußweg nach oben schleichenden Sportler, wurde als Kollateralschaden billigend in Kauf genommen. Auch hier sorgt das Altonaer Krankenhaus für die Verwaltung der Tagesprotokolle in stiller Andacht. Zerschellte Schlitten in den Büschen zeugten noch im Frühjahr, nach der Schneeschmelze, von den Wettkämpfen des vergangenen Winters. Manch ein Zahn, der im Frühjahr neben einem Schneeglöckchen leuchtete und einige mit guter Hoffnung nach einem neuen Ötzi graben ließen.

Der Donnerspark bietet andere Herausforderungen. Mit genügend Schwung kann der kreuzende Weg als Sprungschanze genutzt werden. Mancher Schlitten der unter dem Kampfgewicht eines Springrodlers aufgab und die Kufen von sich streckte. Doch auch ein geglückter Sprung war nicht alles. Ein altes Hamburger Rodlersprichwort lautet nicht umsonst: Nach dem Sprung ist vor der Bremsung. Der Zaun kommt schnell und so manches zu spät eingeleitete Bremsmanöver endete schon mit dem Vollkontakt von Schlitten, Zaun und Rippen.

Gefürchtet sind die Nachtfahrten. Die Nacht der langen Kufen. Wo sich der Lichtschein des Hafens auf dem blanken Eis der Piste widerspiegelt. Dann schlägt die Stunde der wahren Profis. Sie fürchten weder Tod noch Teufel oder Gitter und Laterne im Auslauf der Piste. Blank liegt die Todeszone des Rosengartens vor einem im Dämmerlicht und die einen beim kleinsten Fahrfehler zerreißenden Bodenwellen, ducken sich ins Dunkel der langen Schatten der umliegenden Hänge. Hier entscheidet sich, bist Du ein Flockenreiter, Eisbrecher oder eine Schneeprinzessin? Manch einer, der vor Ehrfurcht schon kniff und den Schlitten lieber wieder mit nach Hause nahm. Hier werden Helden des Schnees gezeugt. Schlittengötter. Schade, dass es nicht mehr so häufig schneit. Das Archiv des Krankenhauses wird Jahr für Jahr weniger mit Heldendokumenten gefüllt. Es wartet nicht einmal mehr ein Krankenwagen oben auf der Elbchaussee, um die Dokumentation vor Ort für die Akten vornehmen zu können. Wirklich Schade. Die Legenden um legendäre Schlittenfahrten werden weniger.

Im Keller habe ich eine Einkauftüte meiner Mutter gefunden. „DESUMA“ steht drauf, aber das ist eine andere Geschichte….

 

     


Drei. Es ist die Drei. 

 

Die Vorstellung, dass eines Tages der Altonaer Bahnhof nicht mehr in der Form existieren soll, wie er jetzt noch vor mir steht, erfüllt mich mit Schaudern. Nicht, dass der Bahnhof eine besondere Schönheit ist oder irgendetwas zu bieten hätte, was es sich lohnt jetzt besonders hervor zu heben, aber er gehört einfach dazu. So, wie der Stuhlmannbrunnen zum Bahnhof oder das Altonaer Rathaus zu Altona. Man muss ihn ja so nehmen, wie er ist. Der Bahnhof ist schließlich der Mittelpunkt von Altona. Um dieses „Ding“ baut sich alles auf. Hier führen nicht nur die Gleise hin, auch die Ottenser Hauptstraße und die Große Bergstraße treffen hier auf den Bahnhof. Trotzdem finden sie nicht zusammen. Hier verläuft eine Trennung zwischen Ottensen und Altona. Nicht nur durch Gleise, da der Bahnhof ja ein Kopfbahnhof ist und die Gleise in ihm enden. Die Trennung erfolgt eher durch die Max-Brauer-Allee.

Das jetzige Bahnhofsgebäude ist noch recht jung. 1976 eingeweiht. Und damit 4 Jahre jünger als ich. Wenn ich mir historische Bilder des alten Bahnhofs ansehe, dann muss ich sagen, es fehlt dem neuen Bahnhof an Charme. Eigentlich fehlt ihm alles, was in mir eine positive Erregung wecken könnte.

Der Alte hatte etwas Erhabenes, das Portal des Bahnhofs in Südrichtung strahlte etwas Stolzes aus. Der Bahnhof hatte ein Gesicht. Zwar kein feines Gesicht, eher das eines Arbeiters. Ein grobes Backsteingesicht, aber immer noch mehr Gesicht als der jetzige Bahnhof. Heute muss man das Gesicht des Bahnhofs suchen und etwas Erhabenes kann ich auch nicht finden. Und auch das nähere Umfeld hat sich nicht unbedingt in Schönheit gesuhlt.  Oder möchte jemand behaupten, dass das Gebäude mit der Deutschen Bank und der Commerzbank drin sei schöner als das prachtvolle Kaiser-Wilhelm-Hotel an gleicher Stelle?    

In meinem Kopf hat sich ein Bild eingebrannt, welches ich wohl meinen Lebtag nicht mehr vergessen werden. Es war 1974 und der Abriss des alten Bahnhofs war in vollem Gange. Ich war 2 Jahre alt und habe wirklich herzlich wenige Erinnerungen an diese Zeit, aber dieses Bild - es war grausam. Ich stand mit meiner Mutter am Busbahnhof, naja eigentlich saß ich faul in der Kinderkarre, aber ich konnte so bequem den Abriss beobachten, ohne auf meine Füße achten zu müssen. Es waren hier und da schon Abbrucharbeiten erfolgt. Teile des Bahnhofs waren bereits abgetragen. Es stand nur noch die Front mit den beiden mächtigen Türmen. Jetzt wurde mit der Abrissbirne weitergearbeitet. Von meiner Karre aus konnte ich beobachten, wie die Abrissbirne in den einen der beiden stattlichen Ziegeltürme krachte und dabei einen der Deckenböden zum Einsturz brachte. Ein herzzerreißendes Bild, auch wenn ich zur damaligen Zeit noch nicht einmal ansatzweise beurteilen konnte, was denn da gerade vor sich ging. Ich kann auch heute noch nicht beurteilen, ob ein Erhalt des alten Bahnhofs Sinn gemacht hätte oder nicht. Aber dieses Bild des abstürzenden Bodens und die in sich zusammensackenden Mauern, waren kein schöner Anblick. Ich sah den alten Bahnhof sterben. Und instinktiv wusste ich, das ist nicht gut. Das Sterben eines Hauses mit ansehen zu müssen, ist bis heute ein Anblick, der nur schwer für mich zu ertragen ist. Mir fehlt da immer der Respekt vor dem jeweiligen Bauwerk, egal wie alt, klein oder unwichtig es erscheint. Jemand hat es erdacht, erbaut und später haben viele Menschen dieses mit Leben gefüllt. Unzählige Geschichten hätte dieses Bauwerk erzählen können. Vielleicht nicht unbedingt aus den Amtstuben in den oberen Etagen, wo die Bahnbeamten ihren nervenaufreibenden Tagesaufgaben bei einer 12ten Tasse Kaffee nachgingen. Aber alleine von den dort abfahrenden und wieder ankommenden Menschen auf den Bahngleisen. Die Trennungen und gleichzeitig die Wiedervereinigungen bei der Ankunft. Dramen, Schicksale, Freuden und Tränen aller Art. Aber es muss ja auch irgendwie weitergehen. Mal schauen, wie es aussieht, wenn der Fernbahnhof gar nicht mehr in Altona besteht, sondern in Diebsteich oder sonst wo seine Residenz aufgeschlagen hat. Man weiss es ja noch nicht so richtig.

Etwas aber ist von dem alten Bahnhof geblieben. Etwas was ihm auch der „neue“ Bahnhof nicht nehmen konnte. Es gibt noch immer einen fast vergessenen Tunnel, der vom Altonaer Bahnhof bis zum Ufer der Elbe führt. Die abgestorbene Lebensader Altonas. Hier wurde dereinst der Fisch aus den Fischhallen und dem ehemaligen Kühlhaus in Oevelgönne über den Altonaer Bahnhof in die Welt südlich der Elbe exportiert. Das ehemalige Kühlhaus besteht ja noch, ist jetzt nur eine Wohnresidenz für ältere Herrschaften. Vielleicht ist es aber auch immer noch im Innern ein Kühlhaus. Man munkelt da so was. Aber das sind Spekulationen, reine Spekulationen. Der Tunnel besteht tatsächlich noch und existiert sogar noch in voller Länge. Nicht ganz einen Kilometer legt er unter der Erde von der Elbe bis zum Bahnhof zurück. Züge fahren hier nicht mehr. Der Tunnel ist an beiden Seiten sicher versperrt. Vor sehr vielen Jahren hatte ich das Glück mit einem der letzten Museumszüge durch den Tunnel fahren zu können. Aufregend. Aber auch das ist nicht mehr möglich. Im Innern wurde die Röhre wegen akuter Einsturzgefahr verstärkt und damit einer eventuellen Neuauflage der Bahnstrecke der nötige Platz geraubt. Aber was soll man machen. Ohne Absicherung, würde die Max-Brauer-Allee sonst irgendwann eine Etage tiefer liegen, denn unter ihr führt der Tunnel entlang. Was man allerdings nutzen kann, sind Führungen durch den Tunnel. Am Tag des Denkmals besteht ab und an die Möglichkeit. Wen es interessiert, einfach mal im Internet schlau machen. Es lohnt sich.

Man kann aber auch außen rum gehen. Man beginnt in der Präsident-Krahn-Straße bei der Autoreisezugverladestation, folgt der Straße, geht am besten beim Bahnhof in den Fußgängertunnel und stellt fest, dass da eine Wölbung im Boden ist, was das Tunneldach des Schellfischtunnels ist. Geht wieder hoch zur Max-Brauer-Allee und steuert mit dieser an seiner Seite auf das Rathaus zu. Kaistraße runter. links zwischen Hang und Haus, liegt der ehemalige Tunnelausgang. Das Portal hat ebenfalls noch immer bestand. Noch schnell den ehemaligen Gleisen folgen und jetzt ein Bier im alten Hafenbahnhof trinken. Geschafft. Prost. Entdeckungsreisen können so entspannend sein.

 

        


... Fortsetzung des ersten Teils (siehe unten)

 

Wie tief ich hier verwurzelt bin, habe ich seit dieser Reise immer mehr gelernt. Egal, wie dreckig, hässlich und abstoßend Altona an einigen Ecken war und ist. Ich nehme Anteil an jedem abgerissen Haus, an jedem Schrebergarten der einem Neubau weichen muss und jedem alt eingesessenen Geschäft, das aufgibt und die Türen schließt. So ziemlich allem, was ein Teil meiner Jugend war.

Mit gemischten Gefühlen beobachte ich den Bau neuer Wohnquartiere in und um Ottensen herum. Es wird enger. Es wird voller. Es wird teurer. Das Publikum verändert sich stetig. Nichts gegen Veränderungen, aber ein Stadtteil sollte dabei nicht seine eigene Identität verlieren. Von dem Altona meiner Jugend bis zu dem Altona von heute war es ein weiter Weg. Das Gesicht hat sich über die letzten 50 Jahre mehrfach verändert. Natürlich auch schon vorher, aber das ist mein kleiner Lebensanteil an der Geschichte von Altona und im speziellen von Ottensen. Aus einem Arbeiterviertel mit hohem Industrieanteil hat sich, mit einem Schlenker über einen sehr alternativ angehauchten Ort, ein hipper und bunter Schmelztiegel von verschiedensten Lebensformen gebildet. Hier haben die Kinder der türkischen, italienischen und griechischen Gastarbeiter genauso ihre deutschen Wurzeln wie ich. Und das ist auch gut so. Wäre es nicht langweilig immer nur Restaurants, Imbisse und Bistros zu haben, wo es die Schweinehaxe mit Sauerkraut oder Labskaus gibt? Gespräche nur mit norddeutscher Distanz geführt werden? Nur Bier und Köm? Mir würde da was fehlen. Aber Entwicklungen haben nicht nur Vorteile. Dem Ganzen folgen immer Spekulanten, die den Stadtteil teuer machen. Und wenn ich ehrlich bin, ich möchte keinen so hippen Stadtteil wie Eppendorf hier haben. Dass es Eppendorf gibt, ist toll, aber Altona und Ottensen sollten ihre eigene Identität wahren. 

So, reicht auch an gewichtigem Geschwafel. Wer Altona kennt, macht sich am besten seine eigenen Gedanken und das was er an ihm gut, schlecht oder solala findet.   

Ich bin 1972 in der Frauenklinik im Bülowstieg in die Welt gefallen. Das Gebäude gibt es glücklicherweise noch, auch wenn hier keine Kinder mehr das Licht der Welt erblicken. Weit hatte ich es nicht von da nach Hause. Pünktlich zur Tagesschau waren wir wieder zu Hause. Meine Eltern wohnten direkt hinter dem Kinderkrankenhaus. Grünebergstraße. Der Nabel der Welt, wie mein Onkel immer sagte. Vielleicht liegt es daran, dass es mich bis heute nicht so sehr in die Ferne zieht und ich nicht zum Weltenbummler geeignet bin. Lokalbummler trifft da wohl eher zu.

Aus meiner gewohnten Umgebung wurde ich erstmalig gerissen, als meine Mutter meinte, ich soll doch mal einen Kindergarten besuchen. Die Idee fand ich wohl scheiße und habe gleich am ersten Tag auf dem betreuten Spielplatz an der Lisztstraße einen solchen Rabatz gemacht, dass Frau Schäfer sich weigerte mich weiter zu betreuen. Das war dann auch mein letzter Tag auf diesem Spielplatz und nach dieser gewonnenen Schlacht, konnte ich wieder zu Hause spielen. Meine Mutter versuchte es später allerdings noch einmal und brachte mich in dem Kindergarten bei der Ansgarkirche in der Griegstraße unter. Und dieses Mal mit erfolgt. Die Spielsachen waren interessanter als auf dem OpenAir-Spielplatz an der Lisztstraße. Außerdem war es dort wärmer. Ich durfte im Haus spielen.  

Der Weg nach Ottensen führte uns, meine Mutter und mich, immer durch die Abruzzen. Der Name war bei uns so gängig, dass ich erst im fortgeschrittenen Alter mit Erstaunen feststellte, dass es in Mittelitalien ebenfalls eine Gegend dieses Namens gibt. Zur damaligen Zeit war der gesamte Bereich um den heutigen Holstenring ein von Industrie geprägtes Areal. Für mich immer die Abruzzen. Ob der Name auf eventuelle italienische Gastarbeiter zurückzuführen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Es kann aber auch sein, dass meine Mutter sich diesen Namen nur ausgedacht hat, weil er so schön klingt. Unser Weg nach Altona führte uns also immer durch diese aus rotem Backstein dominierte Industriearchitektur, die schon damals auf dem absteigenden Ast war. Viele Hallen standen leer und nur noch wenige Betriebe gingen ihrer Arbeit nach. Ab und zu kreuzte unseren Weg noch eine der letzten Industriebahnen. Für mich in meiner Kinderkarre ein begeisternder Moment. Eine Lokomotive, die über die Straße fuhr. Hier sah es nach Arbeit aus, es roch auch nach Arbeit. Es gab immer etwas Spannendes zu entdecken. Perfekt für jemanden, der sich in der Kinderkarre spazieren fahren lässt. Erst hinter den Zeisehallen verließ man den von Industrie geprägten Teil. Hier betrat man die Bahrenfelder Straße. Direkt in der Kurve, bei der ehemaligen Post, dem Familieneck und geradeaus konnte man schon Fahrrad Diener sehen. Geblieben ist nur das Familieneck. Und auch der tollste Werkzeugladen aller Zeiten hat die Zeit nicht überdauern können. Aulmann, Krüner & Co oder auch einfach Eisen Krüner genannt. Ein Geschäft, wie eine alte Apotheke. Weniger aufgeräumt, aber ebenfalls mit hunderten von Schubladen in großen Schränken. Alle gefüllt mit Schrauben, Muttern, Unterlegscheiben und verpufften Erinnerungen. Geballtes Fachwissen hinter dem Tresen, welches die Schrauben einzeln verkaufte. Hier konnte man Fragen und kompetente Antworten bekommen. Und ein Gefühl, das kein Baumarkt der Welt einem wiedergeben kann. Das Haus steht noch, nur dass jetzt ein asiatischer Lebensmittelladen hier residiert. Ganz verschwunden war er zwar noch nicht, aber dann war in der kleinen Rainstraße dann doch irgendwann Schluss. 

 

Auch Fahrrad-Diener konnte die Zeit nicht überdauern. Vielleicht hätte er nur einige Jahre länger durchhalten müssen, dann hätte er einen fantastischen Standort gehabt. Aber die 80er waren kein Fahrradzeitalter. Die Fahrradläden kamen erst später wieder in größerer Anzahl nach Altona zurück. Aber damals in der 70ern war er der Anlaufpunkt für Fahrräder und Fahrradteile. Hier gab es all den Schnickschnack, den man für ein cooles Fahrrad brauchte. Wimpel, Bananensattel, zweifarbige Bautenzugisolierungen und bunte Putzringe für die Radnaben. Jede Zeit hat so seinen Zubehörunsinn. Auch diese Dinge wirken heute etwas überholt und konnten sich nicht in der Gunst der Fahrradenthusiasten halten. So wenig, wie Fahrrad Diener selbs

 

Geht bestimmt bald weiter ….

 

  


Altona - kann man mal machen

 

Die Dünung hob das schwere Schiff spielerisch leicht an und ließ es dann sanft in das nächste Wellental gleiten. Dieses wiederholte sich in einem ruhigen und monotonen Auf und Ab. Das Wetter verhielt sich ähnlich zum Seegang. Sanft. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, schickte aber ihre ersten Lichter schon großzügig über den Horizont hinweg in den Himmel voraus. Wir fuhren nach Westen. Der Sonne hinterher. Oder wie es in diesem Moment vielleicht etwas passender wäre: Wir fuhren der aufgehenden Sonne voraus. Der Morgenhimmel bot einen nahtlosen Farbübergang, von einem strahlenden Weiß am Horizont, bis zu einem dunklen Blau im Zenit, und noch viel schwarze Dunkelheit im Westen. Keine Wolke, kein Flugzeug. Ruhe. Nicht einmal das Dröhnen der Maschine, die die 230 Meter Stahl hinter mir langsam über den Atlantischen Ozean drückte, war zu hören. Nur das Auseinanderstoben des Wassers, wenn der mächtige Bug die Meeresoberfläche teilte, bildete einen rauschenden Hintergrund. Es war kurz vor acht Uhr und meine Schicht sollte gleich beginnen. Decksdienst. Das hieß, die geladenen Container auf eine ordnungsgemäße Verlaschung zu prüfen, die Kühlcontainer bei ihrer Arbeit zu kontrollieren und nebenbei die herumliegenden Trelocks, kleine Verbindungsstücke zum Stabilisieren der einzelnen Container untereinander, einzusammeln und in Kisten bis zum nächsten Gebrauch zu verstauen. Eine Routine, die nach jedem Besuch in einem Hafen stattfand. Sicherheit an Bord wird großgeschrieben, aber eigentlich sollte ich nur aufpassen, dass keiner der Container unvermittelt ins Meer stürzt. Aber noch war es Morgen und der Vorarbeiter weit. Ich saß noch ein wenig vorne auf der Back des Schiffes und ließ mir den Wind vom Atlantik um die Nase wehen. Ein Duft aus Salz, Seetang und Freiheit. Eine Fahrt ins Unbekannte. Weiter war ich noch nie von Zuhause entfernt. Und mit jeder Stunde wurden es mehr Meilen, die mich von Hamburg trennten. Meiner Heimatstadt. Ich war auf einer Praktikumsfahrt und wollte feststellen, ob mir die Seefahrt liegt. Vier Wochen sollten wir von Hamburg aus, bis zur Ostküste der USA und Kanada fahren, um dann den umgekehrten Weg auch wieder zurück zu fahren. Vor drei Tagen hatten wir Le Havre in Frankreich verlassen. Noch drei weitere Tage sollten wir auf See bleiben, um dann endlich Halifax, Neu Schottland, Kanada zu erreichen. Eine neue Welt für jemanden, der mit gutem Willen gerade mal die Grenzen der Bundesrepublik in Richtung Dänemark verlassen hat. Was irgendwie ja aber auch nicht unbedingt raus aus der Heimat bedeutet. Hinter mir vernahm ich Schritte und schrak aus meinen Tagträumen auf. „Scheiße, der Vorarbeiter“, dachte ich und versuchte mir eine schnelle Ausrede für mein Nichtstun einfallen zu lassen. Ich drehte mich um und wollte gerade irgendetwas von Schmerzen in der Hand erzählen, als ich sah, dass es nur Pelé war, mit dem ich zusammen Decksdienst machen sollte. Pelé war ein ruhiger Typ. Dichter Bart und lange Haare. Strohblond und gemütlich. Alle nannten ihn Pelé. Wie er richtig hieß, habe ich nie rausgefunden. Aber es spielte hier an Bord auch keine große Rolle. Hauptsache, derjenige reagierte, wenn man den Namen rief. Wir hatten bis dato noch nicht viel miteinander zu tun gehabt, seitdem ich an Bord war. Aber ich glaube die Chemie zwischen uns stimmte. Er setzte sich zu mir. Zog eine kleine Tüte mit Salzpastillen aus seiner Jackentasche. Er hielt mir die Tüte hin und nachdem ich dankend abgelehnt hatte, nahm er sich selber einen der kleinen Lakritz-Bonbons. Und so saßen wir nebeneinander und blickten aufs Meer, genossen das leichte Auf und Ab des Bugs. „Du kommst aus Hamburg, sagte man mir“, sprach es und nahm noch einen seiner Lakritzbonbons aus der Tüte, ohne mich dabei anzusehen. Erstaunt antwortete ich „Ja, aus Hamburg-Altona“. Dann passierte erst einmal gar nichts. Ich wurde unsicher. War das jetzt gut oder schlecht? Die meisten meiner Kollegen hier an Bord kamen aus ganz Deutschland und einer sogar aus Österreich. Wenn jemand von denen Hamburg kannte, dann eigentlich nur St. Paulis Reeperbahn. Und je länger die Antwort auf sich warten ließ, umso unsicherer wurde ich. „War das jetzt die falsche Antwort?“ grübelte ich. Irgendwann antwortete er doch. „Ich auch. Aus der Keplerstraße.“ Erstaunt sah ich ihn an und erwiderte, dass ich hinter dem Kinderkrankenhaus aufgewachsen bin, und erhoffte mir eine etwas euphorischere Reaktion. Die Kepler- und die Grünebergstraße liegen schließlich nicht wirklich weit auseinander.  Aber die erhoffte Reaktion blieb aus. „Zwei Norddeutsche Sabbeltaschen bei der Arbeit“, dachte ich nur. Das kann ja ein langes Gespräch werden. Hoffentlich sieht uns der Vorarbeiter nicht. Und als ob Pelé meine Gedanken hatte lesen können, beruhigter er mich auch schon. „Der Vorarbeiter hat noch achtern etwas zu erledigen und das kann dauern!“ 230 Meter Ruhe trennten uns also von der Arbeit. Jetzt nahm Pelé doch noch Fahrt auf, ignorierte aber die Feststellung des gleichen Herkunftsort geflissentlich und begann mich lieber über meine musikalischen Vorlieben und so weiter aus zu fragen. Letztendlich landeten wir doch wieder in Altona und fanden den gemeinsamen Weg aus den ehemaligen Plattenläden, wie Sonnenberg, Teldec, Zardoz und Slam wieder in unseren Stadtteil. Wir versuchten uns die einzelnen Abteilungen und deren Lage in dem ehemaligen Hertie Kaufhaus in Erinnerung zu rufen. Das war zwar schon seit vielen Jahren geschlossen, und schon lange durch das Einkaufszentrum Mercado ersetzt worden, aber in unseren Köpfen noch immer geöffnet, gut besucht, und in voller Blüte. Scheinbar bin ich nicht der Einzige, der Hertie nachtrauert. Je länger wir über die Abteilungen sprachen, umso mehr stand ich mit meinen Erinnerungen mitten in dem riesigen Kaufhaus. Ich konnte sogar den Geruch der Auslegeware in der Nase spüren. Am Ende entwickelte sich das Ganze zu einem kleinen Wettkampf, in dem jeder dem anderen eine Abteilung nannte und man die Lage in dem Haus beschreiben musste. Am Ende scheiterte ich an den Damenperücken. Ich wusste es wirklich nicht mehr. Ich vermutete sie bei den Hüten im Erdgeschoss, zwischen den beiden Eingängen. War mir aber unsicher und unterließ eine Antwort. In einem waren wir uns allerdings einig. Die Lebensmittelabteilung im Keller war spitze. In Gedanken verließen wir Hertie durch einen der beiden Vordereingänge, gingen die Ottenser Hauptstraße bis zur nächsten Hausecke, an dem das Hertie-Gebäude endete, aßen eine Wurst bei dem kleinen Grillimbiss, der von Mutter und Tochter betrieben wurde. Ein auffälliges Duo, die sich beide den gleichen Friseur mit Dolly Parton zu teilen schienen. Die höchsten blonden Turmfrisuren von ganz Altona. Und die beste Grillwurst. Wir durchwanderten weiter im Geiste unseren Stadtteil, nannten Kneipen, Geschäfte und Plätze, die wir beide regelmäßig frequentierten. Und dazu erzählten wir uns die passenden Anekdoten aus dem eigenen Leben. Plötzlich war der Stadtteil mir wahnsinnig nah, auch wenn uns gerade 2.000 Seemeilen voneinander trennten. Pelé stand irgendwann auf und meinte, er müsse dann doch mal zur Arbeit gehen. Immerhin verdient er sein Geld hier, aber ich als Praktikant, solle das Abenteuer Seefahrt doch noch in Ruhe genießen. „Wie sehen uns am Abend in der Bar“ schob er noch hinterher. Als Pelé weg war, hatte ich bei der Verabschiedung den Eindruck, etwas brüchiges in seiner Stimme wahrgenommen zu haben. Ich dachte über den spontanen Wandel seiner ansonsten festen Stimme nach. „Hatte er nicht unteranderem auch erzählt, dass er bereits seit zwei Jahren nicht mehr in Hamburg gewesen ist, und er vermutlich noch einige Jahre weiter zur See fahren wird?“, versuchte ich das Gespräch zu rekapitulieren. Vielleicht hat unser Gespräch Heimweh bei ihm geschürt? Vielleicht ist er mit Hamburg und Altona doch enger verbunden, als er zugeben mochte? Sollte er tatsächlich einen Anflug von Heimweh verspürt haben, ich konnte es in diesem Moment zum ersten Mal in meinem Leben verstehen.

Letztendlich bin ich nicht zur See gefahren. Aber ich denke immer wieder gerne an die Reise, das Erlebte und an das mit Pelé vorne auf dem Schiff im Sonnenaufgang geführte Gespräch zurück. Spätestens, wenn ich die Treppen nach Neumühlen und dem Museumshafen hinabsteige. Der Blick auf den Hafen, seine Geräusche und das geschäftige Treiben sehe und höre, dann bin ich mit meinen Gedanken wieder auf dem Schiff. Und doch weiß ich, ich muss gar nicht weg, mir reicht eine Seemeile Altona zum Leben.

 

He say "Do you remember?"
He say "Do you recall?"
I say yeah I remember, oh, I remember it all
Every time that cold wind blows
Every time I hear that sound
Late night trains shunting down by the river
I remember windy town

 

Chris Rea – Windy Town – Album: Dancing with strangers 1987

 

                                                                                                                                                                Fortsetzung folgt….